Dirk-Michael Kirsch - Hymnen an die Nacht op.30 - 2014

Uraufführung am 19.10.2014


Dirk-Michael Kirsch
( geb. 1965)
"Hymnen an die Nacht " op.30

Sprecher: Carsten Fabian

Marina Ulewicz, Sopran
Tino Brütsch, Tenor

Junges Ensemble München
Paul-Gerhardt-Chor

Leitung: Ilse Krüger

 

Dirk-Michael Kirsch über "Hymnen an die Nacht"

Eine Melodie kann ein Weg zur Seele sein. Für mich ist vor allem der Klang ein Schlüssel dazu. Klänge können in uns für Momente ganz persönliche Erinnerun­gen wach rufen, so wie Düfte es vermögen, manchmal nur als kurze flüchtige Ahnungen und Einblicke in längst im Dunkel der Zeit scheinbar der Vergessenheit anheim gefallene individuelle Sinneswahrnehmungen, die plötzlich wie aus dem Nichts wieder aufblitzen. Auch Visionen oder andere Seelenzustände wie Trauer und Freude, Ängste und Trost können durch Klänge tief in unserem Inneren zum Schwingen gebracht und hervorgeholt werden.

Worte können meines Erachtens dazu als Boten dienen. Was liegt näher, als beides miteinander zu verbinden? Dies erklärt für mich die bis heute um nichts geschmälerte Beliebtheit und Aktualität großer Chor- und Orchesterwerke.

Novalis' „Hymnen an die Nacht“ sind für mich solche verbalen Boten. Die Verse haben mich vom ersten Lesen an entführt, in eine Welt voller tiefer Gefühle, quälender Lebensfragen nach dem Sinn und den Wegen unseres Daseins, Bilder eines Diesseits sowie Trost spendender hoffnungsvoller Phantasien als mögliche Antworten auf ein Jenseits.

Auf der Suche nach weiteren solcher mich tief berührenden „Boten“ begegneten mir die „Wort-klang-seelen-welten“ der Gedichte von Georg Heym und Else Lasker-Schüler, bei Heym in seiner teils dramatisch deklarierenden expressionistischen Ausdrucksweise, bei Lasker-Schüler in Form von Gefühlswogen, die einem bereits zwischen wenigen Worten entgegenfluten.

Dabei erkannte ich diesen Hintergrund auch in mir längst vertrauten Bibeltexten auf eine neue Art, und tiefere Gedanken- und Gefühlswelten taten sich mir beim erneuten Lesen einiger Passagen der Heiligen Schrift auf. In diesem Moment wurde die Idee geboren, die Texte miteinander zu kombinieren und in Klängen zusammen zu fassen. Sprechen doch alle Texte eine gemeinsame Seelensprache, aus dem Wunsch heraus, Trost zu empfangen, Trost auf der Suche nach Überwindung des Isoliertseins, nach Geborgenheit und Nähe, nach Einswerden mit „Gott“ oder einem geliebten Menschen, auch wenn dazu die Überwindung der Grenzen des Todes nötig sind – der Wunsch nach Frieden im tiefen Inneren.

Beim Lesen all dieser Texte hörte, ja spürte ich förmlich Klänge, die zu ergründen und „auszuhören“ ich mich auf eine mehrere Jahre währende Reise machte, um mittels der ausgewählten Worte eine ganz persönliche Brücke zu bauen zu diesen inneren Klängen. Das Ergebnis sind eine gute Stunde „Klangkomposition“ im wahrsten Sinne des Wortes und damit meine ganz persönlichen „Hymnen an die Nacht“.

Die ersten Ideen zu den „Hymnen“ entstanden bereits 1998. Ein Teil der Textzusammenstellung sowie Skizzen für den Eingangschor entstammen dieser Zeit.

In stilistischer Hinsicht sowie chorischer und orchestraler Behandlung findet das Werk immer wieder Anklänge an eine spätromantische Tradition, deren tonale Wurzeln trotz zeitweise freitonaler Klangschichtungen stets durchscheinen. Dabei standen mir große Meister und Vorbilder wie Johann Sebastian Bach und Johannes Brahms zur Seite, die auch beide in meinem Werk zitiert werden und in deren Tradition ich mich in Folge in meiner kompositorischen Berufung empfinde.

Der Novalis-Text bildet (in Auszügen) den „Roten Faden“ des Werkes und wird aufgrund seiner Komplexität ausschließlich von einem Sprecher rezitiert. Die Bibelzitate werden stets vom Chor vorgetragen, während die ausgewählten Gedichte von Georg Heym und Else Lasker-Schüler auf die zwei Solisten (Sopran und Tenor) sowie auch auf den Chor entfallen. Teilweise überlagern sich die Texte und ergänzen sich kaleidoskopartig in ihren thematisch ähnlichen Stimmungsbildern. Dieses Stilmittel tritt vor allem in der zentralen und gleichzeitig auch umfangreichsten und einen Höhepunkt des Werkes darstellenden Nr. 5 zutage: In Novalis' Vision der nochmaligen Vereinigung mit der verstorbenen Geliebten, die den Höhe- und Wendepunkt in seinen Ansichten zur Nacht zum Ausdruck bringt, manifestiert sich gleichzeitig der Gedanke der Auferstehung. An dieser Stelle verstummt meine Komposition und es erklingt ein Zitat der Instrumentaleinleitung der Arie „Gelobet sei der Herr mein Gott, der ewig lebet“ aus der gleichnamigen Kantate BWV 129 von Johann Sebastian Bach – jedoch in einem 7/4 Metrum.

Die Zahl 7 – in Addition der 3 (Geist und Seele) und 4 (Körper) als Symbol für das Menschliche - durchdringt in verschiedenster Form den Geist des Werkes: Das Gesamtwerk ist unterteilt in sieben Sätze. Das Intervall der Sept spielt stets eine große Rolle. Zur Mitte und zum Schluss der Komposition hin wird der 7er Takt wichtigste Taktart. Instrumentengruppierungen beinhalten die Zahl (7 Blechbläser, 7 Soloviolinen in der Tenorarie Nr.6 ...)

Trotz der symphonisch angelegten Grundidee nimmt die Kammermusik einen entscheidenden Teil des Werkes ein. Hier handelt es sich stets um eingebettete Septette, nach einem Gesamtplan, der möglichst alle Instrumente bzw. Instrumentengruppen mindestens einmal berücksichtigt, was dem Werk bis auf wenige dynamische Höhepunkte einen stets intimen und farbenreichen Charakter verleiht. Somit sind auch nahezu alle Orchestermusiker solistisch gefordert.

In einigen Sätzen wende ich eine von mir schon in anderen Werken erprobte „Kaleidoskoptechnik“ an: verschiedene Motive oder Themen werden in immer neuen Kombinationen aneinandergereiht, übereinander geschichtet oder ineinander verflochten. Dadurch entsteht ein sich stets änderndes und doch einheitlich bleibendes Klanggebilde, ähnlich dem Betrachten von Wellen oder Wolken. Diese Kompositionsweise erschien mir am geeignetsten, den oben beschriebenen „Seelenklängen“ nahe zu kommen. Der Zuhörer darf vom Geschehen auf der Bühne abrücken und im Idealfall auf eine meditative ganz individuelle „Reise“ mitgenommen werden...

Das Werk kann als eine Art Requiem verstanden werden und ist meiner Mutter in liebevollem Andenken gewidmet.

Dirk-Michael Kirsch

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