Einführung: J. S. Bach-Magnificat - F. Poulenc-Gloria - 2004

Johann Sebastian Bach - Magnificat (mit Einlagesätzen C und D)

Francis Poulenc - Gloria  

 
Einführung zum Konzert am 12. Dezember 2004

In dem heutigen Konzert erklingen zwei sehr gegensätzliche Werke der Chormusik.
Sie spannen einen weiten musikgeschichtlichen Bogen von der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zum Anfang der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Während die Musik Johann Sebastian Bachs und seine Vertonung des Magnificats die Vollendung des barocken Kompositionsstils bedeuten, verkörpern die Kompositionen Francis Poulencs und auch sein Gloria mit ihrer Heiterkeit und Ernst, Anmut und Melancholie nicht die einzige, aber die traditionellste Seite der französischen Musik.
 
Johann Sebastian Bach hatte im Mai 1723 das Amt des Thomaskantors und städtischen Musikdirektors in Leipzig angetreten. Zum Weihnachtsfest des selben Jahres komponierte er die Musik des Magnificats in der Es-dur-Fassung (BWV 243a), sein erstes umfangreiches Werk für Leipzig.
Der Text des Magnificats, der Lobgesang der Maria, steht im 1. Kapitel des Lucas-Evangeliums.
Im christlichen Gottesdienst war das Magnificat von alters her ein liturgischer Bestandteil der Vesper. Auch im lutherischen Leipzig der Bachzeit wurde es in den Sonnabend- und Sonntagsvespern in deutscher Sprache im 9. Psalmton gesungen. An hohen Festtagen erklang es aber auf lateinisch, mehrstimmig und unter Mitwirkung von Instrumentalisten.
 
So war es auch am 1. Weihnachtsfeiertag 1723, als Bach sein Magnificat in der Vesper der Nicolaikirche zum ersten Mal aufführte. Das Besondere an dieser Erstfassung bildeten vier altüberlieferte deutsche und lateinische Lobgesänge, sogenannte „Laudes“, die Bach nach alter Leipziger Weihnachtstradition in die Vertonung des Magnificats eingeflochten hatte: „Vom Himmel hoch, da komm ich her“, „Freut euch und jubiliert“, „Gloria in excelsis Deo“ und „Virga Jesse floruit“.
 
In der heutigen Aufführung wird die von Bach zwischen 1732 und 1735 veränderte Komposition des Magnificats -passend zur Advents- und Weihnachtszeit- mit den Einlagesätzen „Gloria in Excelsis“ und „Virga Jesse floruit“ musiziert.
Er transponierte diese Erstfassung von Es-dur nach D-dur, ersetzte die Blockflöten durch modernere Traversflöten und in Satz 10, „Suscepit Israel“, die Solotrompete durch zwei Oboen. Wesentlich ist ferner, dass Bach bei dieser Umarbeitung auf die in der Erstfassung enthaltenen Weihnachtsliedsätze verzichtete. Dadurch machte er seine Magnificatvertonung zu einem für alle festlichen Anlässe geeigneten liturgischen Werk. Erhalten blieben jedoch die charakteristischen Merkmale des Werks: der ungewöhnliche fünfstimmige Chorsatz, die besonders reiche Besetzung des Orchesters, die sehr differenzierte polyphone Ausarbeitung der Komposition, die expressive Gestaltung der einzelnen Sätze und die symmetrische Rahmenstruktur im Eingangs- und Schlusschor. Seine prägnante Kürze erreichte Bach dadurch, dass er die in der Barockmusik häufige schwerfälligere Da-capo-Arie durch leichtere durchkomponierte Arienformen ersetzte.
 
Noch einige Bemerkungen zu Bachs meisterlicher musikalischer Textausdeutung: Nach dem schwungvollen Vorspiel des vollen Orchesters setzt in Satz 1 der fünfstimmige Chor den Jubel „Meine Seele erhebt den Herren“ fort. Im Gegensatz hierzu wird im Satz 2, einer Arie für den Solosopran II mit Begleitung des Streicherensembles und dem Continuo der laute Jubel in Freude sublimiert. 
 
Ein inniger Zwiegesang zwischen dem Solosopran I und der Solo-Oboe mit Continuo erklingt in Satz 3, der plötzlich durch den 4. Satz, dem monumentalen und dramatischen Chor „Omnes generationes“ unterbrochen wird. Die kurze Bassarie des 5. Satzes wird nur vom Continuo begleitet. Bach unterstreicht so den Text
„ ... der da mächtig ist und des Name heilig ist“. Der 6. Satz ist ein malerisches Duett für die Soli, Alt und Tenor mit 2 Flöten, Streichern und Continuo, das Gottes immerwährende Barmherzigkeit ausdrückt. 
 
Im Mittelpunkt des Magnificats steht mit Satz 7 die große Chorfuge „Fecit potentiam“
(Er übet Gewalt mit seinem Arm ...“). Dieser überraschende Klangausbruch setzt den fünfstimmigen Chor mit vollem Orchester ein. Von dramatischer Kraft ist auch die anschließende Tenorarie (Satz 8) erfüllt. Sie verdeutlicht mit ihren fallenden Sechzehntel-Motiven in allen Stimmen der Partitur die Worte „Er stößt die Gewaltigen vom Stuhl ...“.
Der Solo-Alt musiziert im Satz 9 zusammen mit 2 Flöten und dem Continuo und verleiht den Worten „Die Hungrigen füllet er mit Gütern und lässt die Reichen leer“ eine sanft nachdenkliche Stimmung. Die bleibt auch im Satz 10 erhalten, diesem Trio für zwei Soprane und Alt „Er denket der Barmherzigkeit...“ Während die tiefen Instrumente des Continuos schweigen, lassen die Oboen die Töne der Psalmmelodie „Meine Seele erhebt den Herren ...“ aufklingen. Der Satz 11 ist wiederum eine Fuge für Chor und Instrumente. Im abschließenden Satz 12 führt ein dreifaches „Gloria“ zur Musik des Eingangssatzes zurück.
 
Bach legte die Aussage der Doxologie „sicut erat in principio...“ (wie es war im Anfang ...“) wörtlich aus und wiederholte den Beginn seines Magnificats um diesen Textabschnitt in Musik umzusetzen.
 
Francis Poulenc kam am 7. Januar 1899 in Paris zur Welt. Als Fünfjähriger erhielt 
er den ersten Klavierunterricht von seiner Mutter und wurde mit Musik von Mozart, Schubert, Chopin und Schumann erzogen. Mit 15 Jahren wurde er Klavierschüler von
R. Vines, der ihn auch mit Erik Satie bekannt machte.
Poulenc gehörte zu den wenigen französischen Komponisten, die ihre musikalische Ausbildung nicht auf akademischem Wege am Pariser Conservatoire erlangten. Vielmehr begann er mit 21 Jahren ein privates Harmonielehrestudium bei dem Fauré-Schüler Charles Koechlin, das mit der Analyse von Bach-Chorälen begann. 
Poulenc studierte weder Kontrapunkt noch Formenlehre, noch Instrumentation. Seine Musik hat improvisatorischen Charakter und ist weniger kontrapunktischen Künsten als viel mehr harmonischen Verläufen verpflichtet. Der Instrumentalsatz ist durchsichtig, mit Raffinement einfach. Auch romantische Elemente ließ er in seine Tonsprache einfließen, welche die traditionelle Tonalität nie wirklich verlässt. Wesentliches Element der Musik Poulencs ist die Melodie. Sie bestimmt Ausdruck und Form und ist immer in erster Linie vokal gedacht. Die geistlichen Werke nehmen einen bedeutenden Platz in seinem Schaffen ein. 
Neben einer A-cappella-Messe in G (1937) sind insbesondere die Kantate Figure humaine (1943), das Stabat Mater (1950), die Sept Répons des Ténèbres (1961) und das heute zu hörende Gloria zu erwähnen.
Poulenc komponierte dieses Werk 1959 als Auftragswerk der Koussevitzky-Stiftung, offensichtlich auch mit dem Blick auf das berühmte Schwesterwerk Vivaldis. 
 
Die Komposition des Gloria ist in sechs Sätze untergliedert. Chor und Orchester musizieren häufig im Dialog, wobei der Chor auch a-cappella geführt wird und die Chorstimmen einander häufig imitieren. 
In den Sätzen 3, 5 und 6 tritt zu dem meist vierstimmigen Chor der Solo-Sopran hinzu.
Der aufgeschlossene Hörer wird keine Mühe haben, in Poulencs Gloria eines der schönsten kirchenmusikalischen Werke des 20. Jahrhunderts zu erkennen.
 
                    Torolf Müller
 

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