Einfuehrung: Weihnachten 1734 in Leipzig -2017

Weihnachten 1734 in Leipzig

Advent – das bedeutet für uns heute häufig Lebkuchen, Glühwein, Weihnachtsfeier im Büro, Christkindlmarkt und weihnachtliche Konzerte.

Das war nicht immer so. Zu Bachs Zeiten galten die Wochen im Advent als Fastenzeit, als die stille Zeit vor dem  Weihnachtsfest. Orchester- und Chorwerke durften damals in Leipzig in den Gottesdiensten im Advent nicht aufgeführt werden. An den Festtagen der Weihnachtszeit, also vom 25. Dezember bis Epiphanias, freute sich die Gemeinde dann in der Leipziger Thomaskirche und in der Nikolaikirche umso mehr auf besonders festliche Musik während der Gottesdienste.

Als Thomaskantor gehörte es zu Bachs Aufgaben, für jeden dieser Festtage eine Kantate zu komponieren und außerdem die Musik für Gottesdienste, Hochzeiten oder Beerdigungen in den fünf Leipziger Hauptkirchen zu organisieren. Selbst wenn man in Betracht zieht, dass Bach während der Adventszeit als tempus clausum, also als der Zeit ohne Figuralmusik in den Leipziger Gottesdiensten, wohl etwas mehr Zeit als üblich hatte, muss die Komposition und Einstudierung von sechs neuen Kantaten innerhalb so kurzer Zeit für ihn eine Mammutaufgabe gewesen sein. Dafür standen ihm acht Musiker, die je nach Bedarf verschiedene Instrumente spielten, sowie 55 Schüler der Thomasschule zur Verfügung. Die Schüler waren in vier verschieden gute Chöre aufgeteilt und den jeweiligen Kirchen zugewiesen. Nur der beste, der erste Chor führte Bachs Werke abwechselnd in der Leipziger Thomaskirche und in der Nikolaikirche auf. Da der Stimmbruch damals wohl erst mit 17 oder 18 Jahren einsetzte, konnte Bach auf erfahrene Sopran- und Altsänger im Chor zurückgreifen und mit ihnen innerhalb kürzester Zeit neue Kompositionen einstudieren und aufführen. Möglicherweise spielten auch einige Chorsänger teilweise im Orchester mit.

Wie aber konnte Bach ein derart anspruchsvolles und hochkarätiges Werk innerhalb so kurzer Zeit komponieren?

1734 war er bereits seit elf Jahren Thomaskantor und hatte fünf Jahrgänge von Kantaten für die jeweiligen Sonn- und Feiertage komponiert. Erhalten geblieben sind allerdings nur ungefähr 200 Kantaten sowie einige weltliche Kantaten als Auftragskompositionen für besondere höfische Festlichkeiten. Warum also nicht auf diese der Gemeinde unbekannten und nur einmal aufgeführten Auftragskompositionen zurückgreifen? Dies war damals gängige Praxis. Obwohl wir nicht wissen, wer der Textdichter der Chorsätze und Arien war - wahrscheinlich war es Picander - so hat Bach sicherlich mit seinem Textdichter eng zusammengearbeitet, denn dieser musste den Text der bereits vorhandenen Melodie anpassen – nicht umgekehrt. Elf Sätze aus dem Weihnachtsoratorium konnten eindeutig auf weltliche Kantaten zurückgeführt werden. Andere Chorsätze bzw. Arien könnten auf verschollenen Bach-Kantaten basieren.

Im Gegensatz zu den „normalen“ Kantaten gibt es im Weihnachtsoratorium – wie auch in den Passionen – einen Erzähler, der die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium singt. Die Continuo-Begleitungen zu diesen Bibeltexten sind alle neu komponiert. Die kühne Art, wie Bach diese Worte musikalisch interpretiert, zeugt davon, wie wichtig ihm diese Texte waren. Daher ist jeder der so schlicht klingenden Choräle musikalisch ein kleines Meisterwerk: So ist z.B. das Duett von Sopran und Bass „Er ist auf Erden kommen arm“ eine raffinierte Gegenüberstellung von arm und reich, dargestellt durch den schlichtem objektiven Choral des armen Menschen und der subjektiven Frage der reichen staunenden Seele. Die meditativen Arien sind eigenständige Solokonzerte, jede für sich sorgfältig farbig und immer wieder anders instrumentiert. Die strahlenden und prachtvoll instrumentierten Chöre sind wesentlicher Bestandteil jeder Kantate des Weihnachtsoratoriums und tragen zum festlichen Charakter des Werkes bei.

Obwohl Bach sechs eigenständige Kantaten komponiert hat, sind sie durch das gesungene fortlaufende Evangelium von ihm wohl als „Oratorium“ konzipiert. Das Zusammenfassen von mehreren Kantaten zu einem „Konzert“, wie wir es heute kennen, ist also sicherlich auch im Sinne Bachs. Wer allerdings einmal z.B. die erste Kantate des Weihnachtsoratoriums im Rahmen eines Weihnachtsgottesdienstes erlebt hat, dem wird dies unvergesslich bleiben.

Was muss es erst für die Gemeinde der Thomaskirche an Weihnachten 1734 bedeutet haben, nach der damals wirklich „staden“ dunklen Adventszeit die königlichen Trompeten und Pauken des Eingangschors in der festlich erleuchteten Thomaskirche zu hören: „Jauchzet, frohlocket, auf preiset die Tage“.


Dagmar Scherschmidt

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