Antijudaismus in J. S. Bachs Matthäuspassion?
Beim Stichwort Antijudaismus werden viele hellhörig. Sofort drängen sich Bilder auf, die zeigen, wohin die Judenfeindschaft im 20.Jahrhundert geführt hat und beklemmend lesen sich die aktuellen unzähligen antisemitischen Übergriffe.
Transportieren die Bach’schen Passionen Judenfeindschaft?
Für eine antijudaistische Einstellung Bachs finden sich keine Belege Dennoch hat er die Feindseligkeit der Juden gegen Jesus musikalisch so stark ausgedrückt, dass einen beim Hören und Singen mancher Passage heute ein gewisses Unbehagen beschleicht. Bach hat auf unvergleichliche Weise das geschriebene Wort in die Sprache der Musik übersetzt, und damit ungleich verstärkt. Aber alle Sätze und Rufe, die im Verdacht stehen, Feindschaft gegenüber Juden zu transportieren, sind wörtliche Zitate aus dem Neuen Testament. Um das Unbehagen zu lösen, sollten sich Hörende und Singende einige historische und theologische Umstände bewusst machen.
Historische Fakten
Das Matthäusevangelium, entstanden um 80 n. Chr., reflektiert nicht die historischen Umstände zur Lebenszeit Jesu, sondern die einer oder zwei Generationen danach. Diese zeitliche Differenz spielt eine erhebliche Rolle. Was war passiert? 66 n. Chr. erhoben sich Teile der jüdischen Bevölkerung gegen die erdrückende römische Besatzungsmacht. Dieser Aufstand wurde 70 n. Chr. von den Römern beendet, Jerusalem und der Tempel zerstört. Durch diese Niederlage geriet das Judentum in eine Identitätskrise. Gleichzeitig entwickelte sich eine andere Glaubensgemeinschaft, die aus dem Judentum kam, aber in Jesus, den von den Juden erwarteten Messias (auf griech. Christos) sah. Um in der römischen Welt akzeptiert zu werden, grenzten sich die jungen christlichen Gemeinden betont vom Judentum, dem Urheber des Aufstandes, ab. Diese Situation projizieren die Evangelien in die Lebenszeit Jesu; sie entspricht aber nicht der historischen. Jesus und die jüdische Obrigkeit verband mit großer Wahrscheinlichkeit nicht diese Abneigung wie sie in vielen Geschichten der Evangelien geschildert wird. Jesus vertrat eine sehr liberale Ansicht hinsichtlich des jüdischen Gesetzes, aber immer eine jüdische.
Historische Tatsache ist, dass die Römer den Tod Jesu zu verantworten haben. Es ist die oben geschilderte historische Situation der Evangelien, die den Präfekten Pontius Pilatus so milde und zögerlich erscheinen lassen.
Theologische Reflexion
Zur Bach’schen Matthäuspassion gehören die Choräle und Arien in freier Dichtung. Sie spiegeln die Gedanken der christlichen Gemeinde wider, die mit ihrem Glauben damals wie heute das Passionsgeschehen reflektiert. Diese Texte lesen und und hören sich wie ein Gegensatz zur Schärfe der anti-jüdisch wirkenden Evangelientexte an. Während diese den Schluss zulassen (wollen), ,,die Jüden“ hätten den Tod Jesu verursacht, lassen die Texte der Choräle, der Arien den Einzelnen seine Verstrickung ins Böse erkennen und klagen niemanden anderen an: ,,Ich bin’s, ich sollte büßen“ und „ich verleugne nicht die Schuld“.
Fazit
Die Matthäuspassion (und die Johannespassion) sollten so aufgeführt und interpretiert werden wie Bach es vermutlich gemeint hat und wie seine Musik die Texte interpretiert. Das empfundene Dilemma, Gefühle des Unbehagens, können nur durch Information, Aufklärung und Reflexion über die (historischen) Hintergründe des neutestamentlichen Textes aufgefangen werden. Über das Problem aber hinwegzugehen, ist heute kein gangbarer Weg mehr.
Monika Ringler
Quellen
- https://www.arbeitshilfe-christen-juden.de/themen/gemeindearbeit/antijudaismus_bach
- Das Neue Testament jüdisch erklärt, Lutherübersetzung, Stuttgart 2021, zweite Auflage
- W. Kraus, J. Raithel, M. Tilly, A. Töllner (Hrsg.) Das Neue Testament jüdisch erklärt in der Diskussion, Stuttgart 2023