Einführung: Mendelssohn Lobgesang - Bernstein Chichester Psalms - 2008


Einführung zum Konzert am 26.10.2008

„Sondern ich wöllt alle künste, sonderlich die Musica, gern sehen im dienst des der sie geben und geschaffen hat.“
(Martin Luther, von Mendelssohn auf dem Titelblatt der Lobgesang-Symphonie zitiert)


Im Jahr 1840 wurde in Deutschland, und insbesondere in der Verlagsstadt Leipzig mit einem opulenten Gutenberg-Fest des 400. Geburtstages der Erfindung der Buchdruckerkunst gedacht.

Am 24. Juni dirigierte Felix Mendelssohn, seit 1835 Leiter des renommierten Gewandhausorchesters, seine Gutenberg-Kantate zur Einweihung des neu errichteten Gutenberg-Denkmals. Tags darauf folgte dann, zusammen mit Webers Jubel-Ouvertüre und Händels Dettinger Te Deum, die Uraufführung der Symphonie-Kantate Lobgesang op. 52 in der Leipziger Thomaskirche, der einstigen Wirkungsstätte Bachs. Das Werk gewann schnell die Gunst des Publikums: Noch im September 1840 leitete Mendelssohn eine Aufführung beim Musikfest im englischen Birmingham, 1842 beim Niederrheinischen Musikfest in Düsseldorf.

Freilich wurden auch kritische Stimmen laut, die auf die zwitterhafte Gattungszugehörigkeit des Lobgesangs abzielten. Durch die monumentale Anlage und die Einbeziehung von Solostimmen und Chor konnte der Vergleich mit Beethovens 9. Symphonie nicht ausbleiben – ein Vergleich, der nicht überstrapaziert werden muss. Denn abgesehen davon, dass Beethovens Vertonung von Schillers Ode an die Freude ganz andere Intentionen zugrunde lagen, hat Mendelssohns Lobgesang eine grundlegend andere Struktur. Zwar bleibt die klassische Viersätzigkeit erhalten, doch verschmelzen die ersten drei, rein instrumentalen Sätze zu einem, freilich breit angelegten, ouvertürenhaften Prolog (Nr. 1) zum Finale mit Gesang (Nr. 2-10), dem Hauptteil des Werkes.

Der Gefahr eines inneren Zerfalls des Werkes in einen symphonischen und einen kantatenhaften Teil begegnet Mendelssohn durch verschiedene thematische Bezüge. Insbesondere dem Eingangsmotto des Chores Alles was Odem hat, lobe den Herrn  kommt die Bedeutung eines Leitmotivs zu. Den zentralen Gedanken des Werkes formuliert der Chor zu Beginn der Nr. 7: „Die Nacht ist vergangen, der Tag aber herbeigekommen.“ Vorgestellt wird uns der gütige Gott, der die betrübte Menschheit aus „Not“ und „schwerer Trübsal“ (Nr. 3), aus den „Stricken des Todes“ und der „Angst der Hölle“ (Nr. 6) erlöst. Und hier berührt sich die Grundidee des Lobgesangs mit dessen äußerem Anlass. Bekanntlich war das erste von Gutenberg gedruckte (und 1455 vollendete) Buch die Heilige Schrift, aus der Mendelssohn ja (in der deutschen Übersetzung Luthers) den Text für seine Symphonie selbst zusammenstellte. So wies auch Gutenbergs Erfindung dem menschlichen Geist den Weg aus der Finsternis zum Licht.

Über Mendelssohns Musik schrieb Robert Schumann in einer begeisterten Rezension: „Alles Lob über die herrliche Komposition! Was den Menschen beglückt und adelt, finden wir hier beisammen, fromme Gesinnung, Bewusstsein der Kraft, ihre freiste, natürlichste Äußerung; die musikalische Kunst des Meisters, die Begeisterung, mit der er gerade an diesem Werke arbeitete, namentlich da, wo der Menschenchor die Hauptrolle bekommt, nicht weiter in Anschlag zu bringen.“

Die Chichester Psalms komponierte Leonard Bernstein 1965 für das Musikfestival, das alljährlich im englischen Sussex an verschiedenen Orten stattfindet, so auch an der Kathedrale von Chichester. Die Uraufführung fand jedoch in New York unter der Leitung des Komponisten statt.

Bernstein war eine umfassende Musikerpersönlichkeit, die weit mehr zu bieten hat als eine internationale Dirigentenkarriere oder unterhaltsame Musicals. Auch als Komponist hatte Bernstein immer den Menschen im Blick – eine Haltung, die in den Chichester Psalms auf wunderbare Weise zum Ausdruck kommt. In den 1960er Jahren wurde der musikalische Fortschritt (oder was man dafür hielt) durch serielle und aleatorische Verfahren repräsentiert, die sich vor allem an kompositionstechnischen und geschichtsphilosophischen Überlegungen orientierten, kaum jedoch an den Hörgewohnheiten des Publikums. Die Chichester Psalms, die Bernstein ausdrücklich in hebräischer Sprache gesungen wünschte, verleugnen nirgends ihren starken Bezug zur Tradition (etwa in der souveränen Anwendung aller Spielarten des polyphonen Chorsatzes) und kommen dem Hörer – bei aller Komplexität insbesondere auf metrisch-rhythmischer Ebene – durch die Wahrung der Tonalität (bei zuweilen rasch wechselnden tonalen Zentren) und einer primären Orientierung am Melodischen stets freundlich entgegen, freilich ohne sich ihm im Mindesten anzudienen.

1954 schrieb Bernstein in echt romantischem Geist: „Ich glaube, es ist die edelste Gabe des Menschen, sich zu ändern. Wir müssen an die Machbarkeit des Guten glauben.“

                    Thomas Krehahn

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